Sie stim­men nicht über­ein — Selbst­hil­fe in Kon­flik­ten II

Es gibt Men­schen, die kom­mu­ni­zie­ren in Urtei­len. Viel­leicht ken­nen Sie das.
Sie haben einen Freund aus der Zeit Ihrer gemein­sa­men Aus­bil­dun­gen. Heu­te sehen Sie sich sel­ten.
Wenn Sie sich sehen, dann über­schwemmt er Sie mit Urtei­len. Er teilt Ihnen mit, was er groß­ar­tig fin­det in der Welt, was über­haupt über alles geht und was Sie unbe­dingt auch ken­nen ler­nen, lesen, sehen, besu­chen, pro­bie­ren, erle­ben müs­sen. Oder das Gegen­teil. Er tex­tet Sie zu mit allem, was abso­lut nicht geht, wirk­lich das Aller­letz­te ist und nur dazu führt, dass die Welt sehen­den Auges in den Abgrund steu­ert.
Oder bei­des.
Er sucht Gemein­schaft mit Ihnen im gemein­sa­men Urteil. Sei­ne Freund­schaft mit Ihnen beruht auf gemein­sa­men Urtei­len über die Welt. Die Urtei­le müs­sen nicht beson­ders fun­diert sein. Sie sind nur der Anlass, sich emo­tio­nal mit­ein­an­der zu ver­bin­den. So wie frü­her, in Ihren Zwan­zi­gern. Damals funk­tio­nier­te das. Ihre Urtei­le ver­ban­den Sie mit­ein­an­der, bil­de­ten Grund­la­ge des gemein­sam emp­fun­de­nen „Wir“. Heu­te ist das schwie­rig, heu­te funk­tio­niert es nicht mehr.
Immer wenn Sie zusam­men sind, und er beginnt wie­der ein­mal, Sie mit sei­nen Urtei­len ein­zu­de­cken, gehen Sie inner­lich in Reser­ve, auf Abwehr, in Wider­stand. Die harm­lo­ses­te Vari­an­te ist noch, Sie machen ein­fach zu, wer­den ein­sil­big und las­sen ihn reden. Sie wer­den jedoch erfah­ren haben, dass das kei­nes­wegs dazu führt, dass er auf­gibt. Im Gegen­teil: die emo­tio­na­le Gemein­schaft kommt nicht zustan­de, und er legt nach. Für Sie wird das immer uner­träg­li­cher. Bis Sie die Zusam­men­künf­te mit ihm mei­den oder sich im Kon­flikt von ihm tren­nen. Er weiß unter Umstän­den über­haupt nicht war­um und erlebt nur, dass Sie sich abschot­ten und von ihm abwen­den. Dabei leb­te Ihre Freund­schaft doch immer davon, dass Sie bei­de ein und der­sel­ben Mei­nung waren!

Was kön­nen Sie tun, um den Teu­fels­kreis zu durch­bre­chen, in den Sie zwangs­läu­fig zu gera­ten dro­hen?
Ihr Gesprächs­part­ner spricht ver­schie­de­ne The­men an, wenn Sie bei­sam­men sind. Eini­gen davon kön­nen Sie nichts abge­win­nen, ande­re mögen Sie viel­leicht sogar inter­es­sie­ren. Doch das zei­gen Sie gar nicht erst. Sie wis­sen inzwi­schen aus Erfah­rung, wor­auf das hin­aus­läuft. Sie wer­den ein­ge­spon­nen in die Erwar­tung Ihres Gegen­übers, ein vor­ge­fass­tes Urteil zu bestä­ti­gen und zu tei­len. Nur dar­um scheint es zu gehen. Das nervt Sie kolos­sal.
Ändern Sie pro­be­hal­ber Ihr Vor­ge­hen. Zei­gen Sie Ihr Inter­es­se, wo es wirk­lich vor­han­den ist. Fra­gen Sie ihn aus über das Buch, von dem er Ihnen vor­schwärmt, über den Film, den Sie unbe­dingt sehen müs­sen. Fra­gen Sie dif­fe­ren­ziert. Haken Sie nach, wenn Ihr Freund nicht wirk­lich auf Ihre Fra­ge ein­geht. Blei­ben Sie bei einem The­ma.
Und: lesen Sie anschlie­ßend das Buch. Schau­en Sie sich den Film an. Und gehen Sie dar­auf ein, wenn er dar­auf zurück­kommt. Oder kom­men Sie selbst in einem spä­te­ren Gespräch dar­auf zurück.
Sie wer­den dann, so oder anders, die Mög­lich­keit haben, zu ver­mit­teln: Schau mal, ich bin dei­ner Emp­feh­lung gefolgt. Ich habe das Buch gele­sen. Ich wäre da nie drauf gekom­men, wenn nicht durch dich. Und ich fin­de es tat­säch­lich inter­es­sant. Es hat für mich das und das…
Ich habe auch dein Urteil über das Buch gehört. Inter­es­siert es dich, wie ich es sehe? Ja? Es hat für mich einen ande­ren Stel­len­wert als für dich…
Wenn Sie das ein paar Mal hin­be­kom­men, ent­steht dadurch die Chan­ce, dass Ihre Ver­bin­dung einen ande­ren Boden erhält, und es nicht zwang­haft wei­ter­hin die gemein­sa­men Urtei­le sein müs­sen, die Sie mit­ein­an­der ver­bin­den (was ohne­hin nicht mehr klap­pen wür­de). Ihr Gegen­über wird erle­ben, dass Sie aus Ihrem Inter­es­se an ihm als Mensch sei­ne Hin­wei­se ernst neh­men. Das wird es auch ihm ermög­li­chen, einen ande­ren Boden der Gemein­schaft mit Ihnen zu akzep­tie­ren, als die frü­he­re Gemein­sam­keit im Urteil.

Not­hart Rohlfs